Medienmitteilung des Thurgauer Obergerichts
«Erbunwürdigkeit» eines Vermächtnisnehmers
Eine über 80-jährige Frau vermachte ihrem Krankenpfleger, der sie 17 Jahre betreut hatte, eine Liegenschaft. Die Gerichte erachten ihn allerdings als erbunwürdig, weshalb er das Eigentum am Grundstück nicht antreten kann.
Die Frau und der Pflegefachmann lernten sich in den neunziger Jahren kennen. Auf ihren Wunsch übernahm der Pfleger ihre Betreuung bis zu deren Tod. In den letzten Jahren war er auf Ihren Vorschlag hin auch ihr Beistand und Vorsorgebeauftragter. Fünf Jahre vor ihrem Tod vermachte sie ihm testamentarisch eine Liegenschaft und verpflichtete die gesetzlichen Erben, allenfalls bestehende Hypotheken und Erbschaftssteuern zu bezahlen. Nach ihrem Tod weigerte sich der Willensvollstrecker, dem Pflegefachmann das Vermächtnis auszurichten, worauf dieser gegen die gesetzlichen Erben auf Übertragung des Eigentums an der vermachten Liegenschaft klagte. Das Bezirksgericht, das Obergericht und schliesslich auch das Bundesgericht wiesen die Klage ab, weil der Pfleger erbunwürdig sei.
Aufklärungspflicht über die wahren Motive der Betreuungsleistungen
Gemäss Art. 540 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB ist unwürdig, Erbe zu sein oder aus einer Verfügung von Todes wegen irgendetwas zu erwerben, wer den Erblasser durch Arglist, Zwang oder Drohung dazu gebracht oder daran verhindert hat, eine Verfügung von Todes wegen zu errichten oder zu widerrufen.
Der Pfleger wusste, dass die Erblasserin ihn im Testament berücksichtigt und ihm das Haus vermacht hatte. Er bezog für seine Betreuungs- und Pflegeleistungen im Durchschnitt über CHF 4’500 pro Monat bei einem Arbeitspensum von etwa 50%. Die Erblasserin hingegen ging davon aus, er erbringe seine Fürsorge vorwiegend aus Liebe und Freundschaft zu ihr. Sie war ausserordentlich abhängig von ihm. Dies zeigte sich darin, dass sie sehr einsam war, Angst vor einem erneuten Klinikeintritt sowie stationärer Behandlung ihrer Depressionen hatte und davon überzeugt war, ohne die Betreuung durch den Pflegefachmann in ein Pflegeheim eintreten zu müssen. Dadurch ergab sich ein ausserordentliches Machtgefälle zwischen diesem und der alleinstehenden Erblasserin. Das für ihn ohne weiteres erkennbare ausserordentliche Abhängigkeits- und das sich daraus ergebende Vertrauensverhältnis hätten ihn nach Treu und Glauben verpflichtet, über die tatsächlichen (entgeltlichen) Grundlagen seiner Dienstleistungen Klarheit zu schaffen. Zudem sei er Beistand der Erblasserin gewesen, so dass eine Aufklärungspflicht gegenüber der verbeiständeten Erblasserin im Zusammenhang mit möglichen oder festgestellten Interessenkollisionen bestanden habe. Dementsprechend hätte der Pfleger spätestens im Zeitpunkt, als er Kenntnis von seiner erbrechtlichen Begünstigung erhalten habe, gegenüber der Erblasserin klarstellen müssen, dass er seine Dienstleistungen als amtlich eingesetzter Beistand sowie im Rahmen eines entgeltlichen Dienstleistungsvertrags und nicht auf der Basis eines Freundschaftsverhältnisses erbringe. Die Verdienste des Pflegers um das Wohlergehen der Erblasserin und deren Dankbarkeit dafür seien- so das Bundesgericht - unbestritten. Die Frage sei indessen, ob die Erblasserin ihm ihre Liegenschaft mit einem Steuerwert von CHF 670'000 vermacht hätte, wenn ihr bewusst gewesen wäre, dass der Pfleger «sich ihr nicht aus Freundschaft und Zuneigung gewidmet hat, sondern des Geldes wegen». Die kantonalen Gerichte hätten die so richtig gestellte Frage verneinen und davon ausgehen dürfen, dass die Erblasserin nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge das Vermächtnis zugunsten des Pflegers widerrufen hätte, «wenn dieser seiner Pflicht, die Erblasserin über die wahren Grundlagen seiner Beziehung zu ihr aufzuklären und damit ihre diesbezüglich falsche Vorstellung zu beseitigen, nachgekommen wäre».
BGE vom 2. November 2021, 5A_993/2020
Obergerichtsentscheid vom 24. September 2020, ZBR.2020.25
Thomas Soliva, Medienstelle des Thurgauer Obergerichts
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