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Mitteilung des Thurgauer Obergerichts

Beginn der Verwirkungsfrist bei Ansprüchen nach dem Opferhilfegesetz

Im Opferhilferecht ist bezüglich der Frage nach dem anwendbaren Recht sowie der Dauer und dem Beginn der Verwirkungsfrist der Eintritt der Beeinträchtigung des Opfers massgebend. Bei psychischen Spätfolgen aufgrund sexueller Übergriffe ist daher entscheidend, wann diese Spätfolgen in vollem Ausmass auftraten, beziehungsweise ab wann das Opfer erkennen konnte und musste, dass es an physischen oder psychischen Spätfolgen einer Straftat leidet, die einen Anspruch nach OHG begründen könnten.

Der heute 65-Jährige besuchte zwischen 1962 und 1972 als Kind die Sekundarschule im Internat des Klosters Fischingen, wo er laut Gutachter von einem Pater sexuell misshandelt wurde. Er leidet an einem komplexen posttraumatischen Belastungssyndrom. Im Januar 2013 machte er gestützt auf das Opferhilfegesetz (OHG) eine Entschädigung von CHF 150'000 und eine Genugtuung von CHF 70'000 beim Bezirksgericht geltend. Dieses sistierte das Verfahren bis zum Abschluss des Strafverfahrens gegen den Pater; letzteres konnte wegen Verjährung nicht anhand genommen werden. Mit Urteil vom 26. September 2019 wies das Bezirksgericht Münchwilen die Forderungen des Opfers infolge Verspätung ab. Dagegen gelangte das Opfer an das Obergericht. Dieses schützte das Rechtmittel und wies die Sache zu weiteren Abklärungen an die Vorinstanz zurück.

Das Obergericht erwog, laut OHG müsse das Gesuch für die Geltendmachung von Entschädigung und Genugtuung innert zwei (Art. 16 altOHG) bzw. fünf Jahren (Art. 25 OHG) nach der Straftat oder der Kenntnis der Straftat eingereicht werden. In Fortführung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung sei bei der Frage, ab wann das Opfer Kenntnis einer Straftat habe, eine "opferbezogene Perspektive" einzunehmen. Entscheidend sei somit, ab wann das Opfer realisiert habe, dass die bei ihm festgestellten Krankheitssymptome auf die sexuellen Übergriffe im Kloster zurückzuführen seien.

Den Akten bis 2010 seien keine Hinweise zu entnehmen, wonach das Opfer sexuelle Übergriffe im Kindesalter behauptet hätte. Es bestehe Grund zur Annahme, das Opfer habe erstmals im Juli 2010 realisiert und als potenziell strafbares Verhalten einordnen können, was es zwischen 1962 und 1972 im Internat erlebt habe. Erinnerungen daran seien "erwacht", als im März 2010 in einem Voralberger Kloster Missbrauchsfälle bekannt geworden seien. Soweit ersichtlich, habe das Opfer erstmals im Juli 2010 gegenüber der Landespolizei Vorarlberg detailliert von körperlichen Misshandlungen und sexuellen Übergriffen berichtet. Daher erscheine das am 1. Januar 2009 in Kraft getretene OHG mit einer Verwirkungsfrist von fünf Jahren als anwendbar. Damit wäre das Gesuch des Opfers rechtzeitig erfolgt; allerdings stehe diese Einschätzung unter dem Vorbehalt weiterer Abklärungen (Befragung des Opfers, Beizug des Polizeiberichts von Juli 2010, Beizug der IV-Akten, Abklärung des gegenwärtigen Gesundheitszustands etc.). Sollte sich aufgrund der Abklärungen ergeben, dass es dem Opfer bereits zu einem früheren Zeitpunkt zumutbar und möglich gewesen wäre, opferhilferechtliche Ansprüche geltend zu machen, wären das anwendbaren Recht und die Verwirkung der Ansprüche erneut zu prüfen. 

Obergerichtsentscheid vom 16. September 2020, SBR.2020.20

Der Entscheid ist rechtskräftig.

Thomas Soliva, Medienstelle des Thurgauer Obergerichts

Promenadenstrasse 12A
8500 Frauenfeld
Tel. 058 345 33 33
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