Medienmitteilung des Thurgauer Obergerichts
Aussagen des Beschuldigten vor Gericht unverwertbar
Laut Obergericht dürfen Aussagen vor Gericht nie verwendet werden, die der Angeklagte vor der Bestellung der notwendigen Verteidigung ablegte.
Die Staatsanwaltschaft veranlasste die Festnahme des Angeschuldigten wegen des Verdachts der Schändung und der sexuellen Handlungen mit einem Kind. Angesichts der Schwere der Vorwürfe hätte sie ihm nach der Eröffnung der Strafuntersuchung einen notwendigen Verteidiger zur Seite stellen müssen. Sie liess ihn indessen ohne Verteidiger einvernehmen. Die zweite Einvernahme vor dem Staatsanwalt fand im Beisein seines Ver-teidigers statt. Dabei verweigerte der Angeschuldigte - auf Vorhalt der Angaben der ersten Einvernahme - jede Aussage. Er verlangte später, die Protokolle beider Befragungen seien aus den Akten zu entfernen, da die Erstaussagen unverwertbar und auch im Protokoll der zweiten Einvernahme enthalten seien. Die Staatsanwaltschaft stellte sich auf den Standpunkt, die Einvernahmen dürften im Strafprozess verwendet werden, weil es um die Aufklärung einer schweren Straftat gehe.
Absolutes oder relatives Verwertungsverbot
Gemäss der Strafprozessordnung (Art. 141 Abs.1 und 2) ist ein Beweis in keinem Fall verwertbar, wenn das Gesetz ihn als "unverwertbar" bezeichnet (absolutes Verwertungsverbot); bezeichnet der Gesetzgeber die Beweisabnahme hingegen als "ungültig", darf der Beweis zur Aufklärung schwerer Straftaten verwertet werden (relatives Verwertungsverbot). Das Obergericht entschied, in Fällen der notwendigen Verteidigung sei eine Einvernahme unabhängig von der Schwere der Straftat absolut unverwertbar, wenn die Befragung durchgeführt werde, ohne dass eine Verteidigung bestellt sei. Umstritten ist diese Frage, weil die StPO diesbezüglich widersprüchlich ist. Laut deutscher und italienischer Fassung von Art. 131 Abs. 3 StPO ist eine Beweiserhebung in Fällen, in denen der Angeschuldigte erkennbar zwingend verteidigt sein muss, nur gültig, wenn die beschuldigte Person auf die Wiederholung verzichtet. In der französischen Fassung hingegen ist die Beweiserhebung bei fehlendem Verzicht auf Wiederholung unverwertbar. Das Obergericht hielt ausgehend von Sinn und Zweck der fraglichen Bestimmung die französische Version für massgebend. Gerade bei schweren Delikten könnte die Staatsanwaltschaft ansonsten versucht sein, die Vorschriften über die notwendige Verteidigung zu umgehen; sie könnte zunächst Beweise erheben, ohne die notwendige Verteidigung bestellt zu haben, und später argumentieren, es gehe um die Aufklärung schwerer Straftaten.
In letzter Instanz muss nun das Bundesgericht, an das die Staatsanwaltschaft gelangte, diese Frage klären. Der Entscheid ist deshalb von praktischer Bedeutung, weil in etlichen Strafverfahren die Aussage des Angeklagten der entscheidende Beweis ist.
Obergerichtsentscheid vom 18. Mai 2017, SW.2017.30; nicht rechtskräftig.
Thomas Soliva, Medienstelle des Thurgauer Obergerichts
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Infobox:
Notwendige Verteidigung
Die beschuldigte Person muss laut Art. 130 StPO verteidigt werden, wenn:
- die Untersuchungshaft einschliesslich einer vorläufigen Festnahme mehr als 10 Tage gedauert hat;
- ihr eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr, eine freiheitsentziehende Massnahme oder eine Landesverweisung droht;
- sie wegen ihres körperlichen oder geistigen Zustandes oder aus anderen Gründen ihre Verfahrensin-teressen nicht ausreichend wahren kann und die gesetzliche Vertretung dazu nicht in der Lage ist;
- die Staatsanwaltschaft vor dem erstinstanzlichen Gericht oder dem Berufungsgericht persönlich auftritt;
- ein abgekürztes Verfahren (Art. 358-362 StPO) durchgeführt wird.